Vorrede: Die Stadt, die Surreale…
Wo immer sich Steinmassen und Straßenzüge zusammenfinden, deren Elemente aus ganz verschiedenen Interessen hervorgehen, kommt ein solches [zufälliges] Stadtbild zustande, das selber niemals der Gegenstand irgendeines Interesses gewesen ist. Es ist so wenig gestaltet wie die Natur und gleicht einer Landschaft darin, daß es sich bewußtlos behauptet. Unbekümmert um sein Gesicht dämmert es durch die Zeit. [...] Die Erkenntnis
der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesäten Bilder geknüpft.
(Kracauer 2009, S. 53-55)
Wer sich der Stadt widmet blickt nicht nur in den Hauptaufenthaltsraum des menschlichen Daseins, sondern widmet sich zugleich einem Universum, das an Komplexität und Vielfältigkeit kaum zu übertreffen ist. Denn die Stadt ist nicht nur Mysterium der Vergangenheit, sondern auch Rätsel der Gegenwart und Ort von Mythologien und Legenden, die sich mit dem >>Realen<< zu einem Gefilde verbinden, in dem das >>Wirkliche<< immer auch unwirkliche Züge trägt und das Unwirkliche immer auch real ist. Sie ist Szenario von Träumen und Alp-Träumen (Calvino 1974) , sowie Verbindungsraum des Konkreten (Materiellen) und Illusionären (Certeau 1988) . Sie ist Ankunftsort und Existenzraum für Sesshafte, Touristen, Immigranten und Nomaden jeglicher Manier (Baumann 1998, 2002) und damit immer auch zugleich Ort des Fremden und des Eigenen (Schütz 2002a ; Simmel 2002 ). Sie ist Architektur und Gestalt des Konkreten und des Imaginären (Lynch 1984, 2001) und besitzt damit eine dualistische Ambivalenz, die sich ohne eine „Entzifferung ihrer traumhaft hingesäten Bilder“ (Kracauer 2009, S. 55) nicht erfassen lässt. Sie ist aber nicht nur Ort einer mikro-soziologischen Traumlandschaft, sondern auch die Schnittfläche eines geopolitischen und sozial-ökonomischen Systems gleichermaßen (Lefebvre 1991) . Sie ist Bühne des Politischen sowie Dreh- und Angelpunkt der Ökonomie und damit auch Wohnort und Sammelstelle sozialer und makro-ökonomischer Machtbeziehungen (Brenner 2004 ; Friedmann 1986 ; Sassen 2006 ; Scott 2001 ; etc.). Doch als Knotenpunkt materieller Transformationsprozesse ist sie eben nicht nur Funktionsapparat eines gesellschaftlichen Systems (Harvey 1973) , sondern zugleich auch >>Gebärmaschine<< einer sinnlichen Metaphysik, welche das Materielle mit dem gesellschaftlichen Korpus verklebt. Damit ist die Illusion – das vergessene Stiefkind einer Stadtforschung, die sich der Stadt zu nähern scheint, als würde sie in das Funktionsgetriebe eines Hochleistungsapparates blicken – die Begegnungsstätte, in der das Überindividuelle (Ökonomie, Institutionen und Materialitäten) und das Individuelle (Lebenswelt und Augenblick) aufeinandertreffen. In diesem Sinne ist die Stadt materiell und transzendent im gleichen Augenblick, weil sich das Mystische in Form von Gestalt und Architektur verdinglicht (auskristallisiert) und das Dinghafte gleichzeitig seine physische Form transzendiert, indem es Raum für Fantasien zur Verfügung stellt (Foucault 1977) , in welchem sich menschliche und nichtmenschliche Akteure begegnen (Thrift und Amin 2002) und sich zu einem Lebensbiotop verdichten, dessen Zusammenspiel aus Narrativen, Phantasien und imaginären Wirklichkeiten nur zu selten das Interesse der Stadtforschung erweckt.
Babel, Sparta, Rom, New York: Städte, die das unendliche Spektakel aus Bildern, Geschichten und Dingen exemplarisch nur zu gut veranschaulichen. Hier sind Bilder und Signale am Werk, die von den Städten getragen werden wie Ausrufezeichen und auf dahinterliegende Sphären und Wirklichkeiten, Möglichkeiten und Chancen, Berührbarkeiten und Unberührbarkeiten verweisen, welche als >>Geisterschlösser<< und greifbare >>Granitblöcke<< gleichermaßen sichtbar werden. Mit dieser gleichzeitigen Anwesenheit von Illusion und Wirklichkeit und dem Nebeneinander von Individuum und Institution gerät die Stadt zu einem Aktionsraum menschlicher und >>über-menschlicher<< Existenzen, welcher einerseits als Habitat und Selbstraum, andererseits als Spielwiese fremder Mächte operiert und damit als der Ort des Eigenen, aber immer auch als der Ort anderer in Erscheinung tritt. Wie auf einer Bühne versammeln sich hier die unterschiedlichsten Akteure und lassen einen Sozialraum entstehen, in dem die Anwesenheit von Handlungsträgern und deren Rollenkonzepten den Städter permanent mit den Selbstdarstellungen anderer konfrontiert. Goffman (2003) entwickelt in Bezug auf soziale Rollenkonzepte den Begriff der Bühne als einen Sozialraum, in dem unterschiedlichen Akteure (Teilnehmer der Gesellschaft) situationsspezifische Darstellungsrollen einnehmen: Selbstdarstellung ist das „Gesamtverhalten eines Einzelnen [...], das er in Gegenwart einer bestimmten Gruppe von Zuschauern zeigt und das Einfluss auf diese Zuschauer hat.“ (Goffman 2003, S. 23) . Doch wie wir sehen werden, erweist sich die Stadt nicht nur als ein Bühne für Städter, sondern eben vor allem auch als ein >>Rollenraum<<, in dem Fantasiegestalten, imaginäre Charakter, Ereignisse, Objekte, Zeichen, Symbole und tatsächliche Personen gleichsam aktiv werden und sich in ein interaktives Spiel verhaken, in welchem die Anwesenheit materieller und metaphysischer Rollen sich zu einem Aufführungsraum verdichtet, in dem das Beobachtet-Sein sowie die Selbstbeobachtung zum Normalzustand gehören und so alles, was anwesend ist, eine soziale Akteursrelevanz verliehen bekommt: „When we find ourselves in a giving setting we often unconsciously ask […] Who can see me, who can hear me? [...] Whom can I see, whom can I hear? […] The answers to these questions help us decide how to behave.” (Meyrowitz 1990, S. 91) . Doch an diesem sozialen Spiel von Beobachtung und Gegenbeobachtung sind, wie sich noch herausstellen wird, eben nicht nur menschliche Rollenträger beteiligt, sondern auch Darsteller anderer Gattungen, wodurch die Stadt nun als ein hochkomplexer Bühnenraum in Erscheinung tritt, auf dem das >>Fremde<< in Form von sozialen Akteuren dem >>Eigenem<< permanent gegenübertritt und sich in ein Gespräch mit dem Städter vertieft, das es hier zu analysieren gilt.
Die Stadt als Ort, an dem man sich aufhält und zu Hause wähnt, ist deshalb zugleich immer auch der Aufenthalts- und Aktionsraum übermächtiger (fremder) Handlungsträger, die oftmals gerade all das regulieren und steuern, was sich der Eigenkontrolle entzieht. Damit ist die Stadt immer auch der Ort, an dem der Wunsch nach einem Eigenraum (die Stadt als Nest und Schutzraum) einerseits und die Angst eines Kontrollverlustes und eines >>Fremdraumes<< anderseits, sich gegenüberliegen. Oder anders formuliert: Hier treffen die Handlungen des eigenen Ichs und die Handlungen institutioneller Akteure unvermeidbar aufeinander, wodurch die Stadt zu einem Gehege gerät, in dem beide Parteien, so fremdartig sie sich auch gegenüberstehen, sich ungewollt auf engstem Raum berühren. In diesem Sinne operiert die Stadt gewissermaßen als die >>Arena<<, in der sich das „I“ und „Me“ (Mead 1980 , 2008 ) begegnen und in welcher dem Städter kollektive Handlungsträger zur Verfügung gestellt werden, die ihn selber wiederum zu einem Mitspieler und Interaktanten einer Bühnensituation werden lassen, die vor allem imaginäre Handlungsträger beherbergt. Die gemeinsame Teilhabe an diesem >>Spiel<< führt nun nicht nur dazu, dass der Städter mit diesen informellen Rollen und imaginären Handlenden umzugehen lernt, sondern auch dazu, dass er notgedrungen mit einer Welt konfrontiert wird, die als eine überindividuelle Welt ihn selbst gewissermaßen immer >>überfordert<<, weil er hier Handelnden begegnet, deren Handlungspotenziale bei weitem über das hinausgehen, was ihm innerhalb seiner eigenen Alltagswelt an Handlungskompetenzen zur Verfügung gestellt wird. Denn trotz dieser elementaren Unterschiede, die sich zwischen dem einzelnen Städter und jenen institutionellen und überindividuellen Handlungsträgern auftun, zwingt die gemeinsame Anwesenheit im Stadtraum beide Akteursgruppen dazu, als Teilhaber (Mitspieler) des gleichen Spiels in Erscheinung zu treten: „When involved in an organized game one learns more than roles; one learns to take the positions of the various players in the team and learns the implicit rules of the game that unify the activities of all agents.” (Aboulafia 2001, S. 13) . Das Fremde (überindividuelle Akteure) und das Eigene (die Städter) besetzen die Stadt so von entgegengesetzten Enden her und treffen in dieser >>Manege<< aufeinander, ohne sich tatsächlich zu begegnen, weil der jeweils Andere für beide Seiten zu großen Teilen immer unsichtbar und innerhalb einer Imagination verhaftet bleibt, die sich nicht vollständig durchdringen lässt. So gerät trotz der unvermeidlichen Nähe beider Partner das >>Unverstehbare<< auf allen Seiten zum Normalzustand einer städtischen Welt, in der die zwangsläufige Dauerkonfrontation mit dem >>Anderen<< auch irgendwie normalisiert und habitualisiert werden muss. Emcke beschreibt diese Konfrontation mit andersartigen Lebensformen und die daraus resultierende Ambivalenz moderner Rollenmuster wie folgt:
„Die gesellschaftliche Modernisierung der Moderne bedeutet die permanente Koexistenz und Konfrontation mit andersartigen oder fremden Lebensformen [kollektiven Identitäten]. Die normativen Erwartungen, die an das Individuum durch die Kommunikations¬gemeinschaft herangetragen werden, entstammen in modernen Lebensformen nicht mehr ein und derselben kulturellen Identität. Dadurch entstehen konfligierende Erwartungen und Rollenmuster, die von dem Individuum eine eigenständige Leistung der kritischen Beurteilung dieser widersprüchlichen Erwartungen verlangen.“ (Emcke 2000, S. 215) .
Die Anwesenheit institutioneller (überindividueller) Handlungsträger führt so eine permanente Fremdperspektive herbei, in deren Spannungsfeld sich die eigene Identität des Städters entwickelt. In Anbetracht des Wissens, dass man als Individuum immer auch von diesen kollektiven Identitäten zurückbeobachtet wird, führt nun das Zugegensein der >>kollektiven Anderen<< auch zu einer Art Dauer-Bespiegelung des eigenen Ichs, weil diese permanent anwesenden Anderen (Institutionen, Kollektive, überindividuelle Akteure, etc.) die Stadt als eine Bühne modulieren, auf welcher sie permanent Handlungsspuren hinterlassen und eine Welt aus lesbaren aber oftmals auch un-entzifferbaren Signalen und metaphysischen Andeutungen fabrizieren, welche sich zu handfesten Realitäten und Bühnenbildern verdichten. Dabei zeigen sich z.B. Bauherren, Stadtplaner, Politiker und nicht zuletzt die Städter selbst zwar als Anwesende der gleichen Welt, doch sie treten partiell immer auch als >>Abwesende<< für die jeweils andere Seite in Erscheinung, was sich, wie wir noch sehen werden, als eine der grundlegenden Charakteristika des städtischen Bühnenbildes herausstellen wird. Und so gerät die Stadt zu einem flüchtigen Berührungspunkt, an dem sich Institution und Lebenswelt , Makrokosmos und Mikrokosmos in einer flüchtigen Geste auf die spitzen Lippen küssen und einen bizarren Raum konstituieren, dessen Wirklichkeiten wir hier auf die Schliche kommen wollen.
"Wege entstehen dadurch, dass man sie geht."
Franz Kafka
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