top of page

Einquartierung am Weltenrand – Exkursion ins Nichts oder Kafkas Suche nach dem Horizont „Ringsum schlafen die Menschen. Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttäuschung, dass sie in Häusern schlafen, in festen Betten, unter festem Dach [...], in Wirklichkeit haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie später in wüster Gegend, ein Lager im Freien, eine unübersehbare Zahl Menschen, ein Heer, ein Volk, unter kaltem Himmel auf kalter Erde hingeworfen wo man früher stand, die Stirn auf den Arm gedrückt, das Gesicht gegen den Boden hin, ruhig atmend“. (Kafka, 1970, S. 315)137 Diese historische Analyse einer aus ihrer Mitte herausgerissenen helio- zentrischen Lebenswelt und deren nachträgliche Einschalung durch einen transzendenten Weltenrand sowie ihre vertikale Ausrichtung innerhalb eines institutionellen Schalen- und Ordnungsraumes im Hinterkopf behaltend, wollen wir uns nun der Gegenwart zuwenden, um uns damit auseinanderzusetzen, welche Schleifspuren die Installa- tion eines Handlungs- und Steuerhorizontes für den Städter auf der Vorderbühne zurücklässt. Dabei müssen wir im Auge behalten, dass die Grenzschichtenhermeneutik, die wir bisher betrieben haben, um – von einem analytischen Blickwinkel ausschauhaltend – den inneren Bauplan der modernen Lebenswelt sowie die Aufspaltung der Eigen- welt in unterschiedliche Welthälften verstehen zu lernen, natürlich unvollständig bleibt, solange man nicht die tatsächlichen Sinnwelten 137 Kafka, F. (1970): Nachts. In: Paul Raabe (Hrsg.): Kafka - Sämtliche Erzählungen. Fischer. Schalenhermeneutik   364 Teil III: Die kafkaeske Stadt  in den Blick nimmt, die sich in der Konfrontation des Subjektes mit einer solchen osmotischen Schalentektonik herausstellen. Unser Vorhaben, die eigentlichen Erfahrungsräume aufzuspüren, die sich innerhalb einer urbanen Moderne aufspannen, führt uns deshalb in Form eines kleinen Umweges zunächst einmal zu Kafka, der als gewiefter Grenzwelt-Hermeneutiker sich ausgiebig mit den lebensweltlichen Konsequenzen eines institutionellen Schalenraumes auseinandergesetzt hat. Im Zentrum seines Schaffens stand die Aus- leuchtung jenes Schalenraumes, in dessen hohler Mitte sich ein ent- machtetes Subjekt wiederfindet, das sich ohne Möglichkeit zur Flucht von einem transzendenten Horizont umzingelt sieht. Damit war Kafka vielleicht der Erste, der erfolgreich seine tiefste Verwunderung über die Ambivalenz einer Moderne zum Ausdruck gebracht hat, die einerseits behauptet, sich von den orbitalen Einschalungen der Le- benswelt durch einen metaphysischen Rand befreit und sich dem Mythos einer geozentrischen Mitte entledigt zu haben (also modern zu sein), obwohl sie andererseits im Epizentrum des bürokratischen und technisierten Lebens, nämlich der urbanen Lebenswelt, eine Memb- ran installierte, welche die aufgeklärte und bereinigte Fläche im In- nenraum der modernen Welt in zwei voneinander osmotisch isolierte Weltschalen aufsprengte. Diese Ausstattung der inneren Lebenswelt mit einem äußeren Schalenrand, der eine kaum zu übersehende me- taphysische Strahlkraft an den Tag legt, ist für Kafka einer der zentra- len Reibungspunkte, an denen sich sein Staunen über die mythischen Untiefen einer rationalen Moderne entzündet. Um herauszufinden, welche Fliehkräfte die Makro-Mechanik einer topologischen Schalen- konstruktion im Bereich der Lebenswelt entwickeln kann, wollen wir uns in der uns hier gebotenen Kürze dem sehr spezifischen Blickwin- kel dieser kafkaesken Schalenhermeneutik zuwenden. Kafkas wunderliche „Bürokratiemitschriften“ (Dreisbach 2007, S. 408 f.)138 widmen sich vor allem der unangemeldeten Montage einer 138 Dreisbach, J. (2007): Disziplin und Moderne: zu einer kulturellen Konstellation in der deutschsprachigen Literatur von Keller bis Kafka. LIT Verlag Münster.  365  Grenzmembran, die trotz ihres diffusen Charakters als einer der wich- tigsten Einrichtungsgegenstände der Moderne fungiert, an dem sich der zentrale Bauplan der neuzeitlichen Lebenswelt exemplarisch ablesen lässt. Obwohl die offiziellen Lippenbekenntnisse der moder- nen Agenda sich offensichtlich darum bemühen, dem Subjekt, zu- mindest ihrem offiziellen Programm nach, eine rationale und störungsfreie Lebenswelt bereitzustellen, beteiligt sich diese Grenz- membran ungewollt an der Herstellung eines transzendenten Außen- raumes, der die Moderne erneut mit Rätseln versorgt und das moderne Subjekt zu dem Bewohner eines Innenraums mutieren lässt, der von mythischen Randwelten umrundet wird. Durch diese Memb- ran wurde also der angekündigte rationale Raum, den das moderne Programm ursprünglich in Aussicht stellte, letztendlich wieder ver- nichtet, weil die aufgeklärte Welt, und das ist der Ankerpunkte Kaf- kas Denken, dadurch mit einem Mythos verunreinigt wurde, indem das Subjekt in der Mitte mit einer omnipotenten Handlungs- und Steuerarena eingerandet wurde, welcher es schließlich gelang, alle Kräfte und Kompetenzen der Weltmodellierung und Welthandha- bung zu absorbieren und auf ihre Seite zu ziehen. Modern ist die Welt also nicht dadurch geworden, dass dem Sub- jekt zusätzliche rationale Handlungsräume zur Verfügung gestellt wurden. Vielmehr ist die Welt modern geworden, weil dem Subjekt hier alle Handlungsoptionen zur Weltmodellierung entwendet und in Form einer Stellvertreterschaft von einer institutionellen Randwelt ersatzlos übernommen wurden. Das heißt, die Modernisierung der Lebenswelt besteht gerade nicht darin, die eigentliche Mitte der Le- benswelt mit einer gesteigerten Handlungsautonomie auszustatten, indem die hier platzierten Prozesse und Verfahren optimiert werden, sondern sie besteht vielmehr darin, die Steuerbefugnisse vom Innen fast vollständig abzuziehen und sie in einem diffusen Außen zusam- menzuschnüren. Mit der Installation dieser Grenzmembran – welche einerseits die Befugnisse der Weltmodellierung von innen nach außen umverteilt und andererseits diese dort angehäuften Güter (Prozesse, Maschinen, Kompetenzen) davon abhält, in die entleerte Mitte zurück- 366 Schalenhermeneutik   Teil III: Die kafkaeske Stadt  zurutschen – wurde der innere Aufenthaltsraum der modernen Le- benswelt wieder funktional entkernt und das im Innen verbleibende Subjekt darin entmündigt, die elementaren Kenngrößen seines städti- schen Daseins selbst zu regulieren. Diese systemische Entmündigung des Subjekts sowie die Ent- wendung seiner Modellierungskompetenzen und deren Abtransport hinter einen institutionellen Weltenrand sind gewissermaßen, so paradox das zunächst auch klingen mag, die Grundvoraussetzung dafür, dass es im Innenraum der Lebenswelt scheinbar rational zu- geht. Denn erst durch den radikalen Abzug von Praktiken der Welt- handhabung bleibt in der Mitte ein geschwächtes Subjekt zurück, das den Tatendrang institutioneller Hinterbühnen, die unsichtbar aber handelnd von außen in die Mitte stoßen, als eine Kraft interpretiert, die wissen muss, was sie tut. Dies führt zu der etwas kuriosen Kons- tellation, dass gerade angesichts der Diffusität eines handelnden Wel- tenrandes dem Subjekt, in dessen Sichtkreis der Horizont unweigerlich auftaucht, nichts anderes übrigbleibt, als diesem institu- tionellen Weltenrand zu unterstellen, tatsächlich rational zu handeln. Allerdings sind die Diffusität des institutionellen Handlungshori- zontes als auch seine ungebremste Steuerungshoheit, die sich im Innen der Lebenswelt entfaltet, gleichzeitig dafür verantwortlich, dass sich das Subjekt mit einem Horizont konfrontiert sieht, der unge- wohnte Rätsel in den Raum stellt, die nicht ohne Weiteres in die Moderne passen. Denn indem das gesamte Repertoire von Steue- rungspraktiken sowie die dafür notwenigen Kompetenzen umge- schichtet und hinter einen undurchdringbaren Horizont verlagert werden, wird dem Subjekt die schwere Aufgabe zuteil, sich mit der merkwürdigen Entleerung seiner Lebenswelt, aber eben auch mit der Entmachtung und Degradierung seines eigenen Daseins kontinuier- lich vertraut zu machen. Dabei gerät der Horizont, der sich in Form eines optischen, mechanischen sowie eines handlungspragmatischen Bruches durch alle Bereiche der aufgeklärten Welt bahnschlägt, zu einem offenen Hindernis, welches das Daseins des Subjektes als eine Existenz markiert, deren wesentliche Parameter sich durch eine Mitte 367  bestimmen, die keinen zentralen, sondern einen peripheren Charter besitzt. Die Herausforderung, der sich das moderne Subjekt zu stellen hat, besteht also in der Herausbildung von Techniken der Gewöh- nung, um die spezifischen Wetterlagen einer in zwei Teile zerbroche- nen Schalenwelt – die sich durch eine Entleerung der Mitte und eine Konzentration von Praktiken der Weltmodellierung im Schalenrand auszeichnet – in das Kalkül des eigenen Daseins mit einzubeziehen. In dieser Hinsicht gleicht Kafkas Werk den Protokollen einer Zeugenvernehmung, die damit beauftragt ist, hermeneutische Indi- zien dafür zu sammeln, dass das moderne Dasein, statt in einer Mitte untergebracht zu sein, in Wahrheit in einer Bedeutungs- und Hand- lungsperipherie Platz findet, aus der heraus es dem Subjekt nicht mehr gelingen will, sich an der Ausformung der Kollektivwelt zu beteiligen, geschweige denn das vorgestellte Steuerzentrum hinter dem Rand zu betreten. Modern zu sein, heißt also, zu lernen, sich mit einem Randseitertum abzufinden, bei dem die Zugänge zum Zent- rum unwiderruflich versperrt bleiben. Ausgehend von einer solchen Schalenhermeneutik, in welcher der Rand metaphysisch aber auch handlungslogisch aufgeladen ist, während die Mitte funktional ausge- räumt und entleert ist, wird anhand von Kafkas Texten (vgl. Kafka 1983 und 1990)139 deutlich, dass die Leistung der Moderne nicht nur darin besteht, eine Grenzmembran zu installieren, die zur einen Seite hin hermetisch verriegelt und zur anderen Seite hin halbdurchlässig ist. Sondern es wird auch zum Ausdruck gebracht, dass die Perfor- mance der Moderne vielmehr darin besteht, die notwendige Logistik an den Tag zu legen, um den Abtransport von Ressourcen, Kompe- tenzen und Praktiken aus dem Innenraum der Lebenswelt sicherzu- 139 Exemplarisch deutlich wird bei Kafka die Suche nach einer Hinterbühne, auf der sowohl die Vertreter institutioneller Steuereliten als auch die Technologien der Welt- handhabung untergebracht sind, z. B. anhand zwei seiner Hauptwerke „Der Prozess“ sowie „Das Schloss“. Vgl.: Kafka, F. (1990): Der Proceß: Roman. Franz Kafka, Werke in Einzelbänden in den Fassungen der Handschriften. Fischer. sowie: Kafka, F. (1983): Der Verschollene: Roman. Franz Kafka, Werke in Einzelbänden in den Fassungen der Hand- schriften. Fischer. Schalenhermeneutik   368  Teil III: Die kafkaeske Stadt  stellen und diese dauerhaft im Schalenrand einer institutionalisierten Hinterwelt unterzubringen. Daher setzt sich die Kernkompetenz der Moderne überraschender Weise zu großen Teilen aus der Fähigkeit zusammen, die Saturierung des Randes und die De-Saturierung einer Mitte logistisch und me- chanisch zu bewerkstelligen, indem der Abtransport von Praktiken der Welthandhabung sowie deren Verwahrung und hermetische Versieglung konsequent im Außen verwirklicht und dauerhaft auf- rechterhalten werden. Unter pragmatischen Gesichtspunkten ist die Moderne also ein Transportunternehmen, das durch die notwendig werdende Bereithaltung eines technischen Fuhrparks sowie durch die Implementierung von Techniken, Verfahren und Infrastrukturen der Exklusion damit beauftragt ist, die Räumung der Lebensmitte sowie das Herausrücken des dortigen Mobiliars (Maschinen und Kompeten- zen der Weltmodellierung) in die Tat umzusetzen. Diesen Grenzverlauf aufzuspüren, der zwar als ein gläsernes Boll- werk selber in der Unsichtbarkeit verharrt, aber im gleichen Atemzug den zunächst aufgeräumten (aufgeklärten) Innenraum der Alltagswelt mit einem zweiten transzendenten Stockwerk ausstattete, das sich für den Bewohner eines alltagsweltlichen Innen vom Unten her nicht betreten lässt, kann sicherlich als die zentrale Sehnsucht Kafkas be- zeichnet werden, von der sein Schreiben geprägt ist. Sein Staunen galt dabei vor allem den irrationalen Abgründen einer rationalen »Mecha- nik«, die zwar einst im Dienste eines institutionellen Hochleistungs- apparates eingerichtet wurde, um Klarheit und Verständlichkeit in die Welt hinein zu montieren, die aber dabei letztendlich das gigantisches Labyrinth einer bürokratischen Überwelt in Gang setzte, welche den Menschen kaum eine andere Möglichkeit ließ, als sich darin zu ver- laufen. Die außergewöhnliche Expertise seines Schaffens besteht im Wesentlichen darin, diese fragilen und weitgehend unsichtbaren Membranverläufe, die sich zwischen dem lebensweltlichen Vorne und dem institutionellen Hinten etabliert haben, aufzuspüren, indem er sich darum bemüht, jene Bruchstellen und Transiträume in der All- tagswelt ausfindig zu machen, in denen sich das Hinten institutionel- 369  ler Kraftarenen in das Vorne der Alltagswelt osmotisch (also einseitig von hinten nach vorne) hineinstülpt. In diesem Sinne kann man Kafka durchaus als einen Pfadfinder und Abenteurer verstehen lernen, der sich in seiner Berufung als Grenzgänger aufmachte, diese unbekann- ten Grenzregionen – also jene Räume, an denen sich das Vorne und das Hinten in die Quere kommen – in Form einer protokollierten Schalenerfahrung auszuleuchten. Sein unermüdlicher Enthusiasmus, jene Welthorizonte nachzuzeichnen, welche die Lebensmitte der Moderne so wirkmächtig und zugleich so unscheinbar umkleiden, versetzt ihn in die explizite Rolle eines Tiefseetauchers, dessen Ziel es nicht war, durch seine Tauchgänge in die Randschichten der Lebens- welt die Moderne zu mystifizieren, sondern der darum bemüht war, deren verborgenen mythischen Kern zu lokalisieren (vgl. Dreisbach 2007, S. 408 f.). Als jemand, der durch seine rastlosen Suchbewegungen im Nah- bereich einer Grenzmembran praktisch zu Hause war und sich an der Differenz des intimen sowie entmachteten Mikrokosmos der Eigen- welt als auch an dem Hinten eines institutionellen Kraftzentrums abarbeitete, war er aber auch jemand, der es wagte, unverhohlen auf die mythische Qualität einer Moderne hinzuweisen, die selber den Mythos in ihren eigenen Reihen sowie den damit einhergehenden mythischen Lebensstil des modernen Subjekts hartnäckig leugnete. Sein selbstgesetzter Schreib- und Arbeitsauftrag bestand vor allem darin, moderne (Stadt-) Räume, die eigentlich als »rationale Festun- gen«, ja als Verfassungstexte einer analytischen und funktionalen Welt konzipiert worden waren, als Orte zu entlarven, die unwiderruflich darin gescheitert sind, dem Subjekt tatsächlich rationale und vom Mythos befreite Lebenswelten bereitzustellen.

"Wege entstehen dadurch, dass man sie geht."

Franz Kafka

bottom of page