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Die kafkaeske Stadt – Einschalungen und die Horizonte der Weltenmitte „Überzeugungen sind Gefängnisse. [...] um über Wert und Unwert mitreden zu dürfen, muss man fünfhundert Überzeugungen unter sich sehen, – hinter sich sehen“. (Nietzsche 1986, S. 102)130 Unsere bisherigen Beispiele haben uns gezeigt, wie durch die Imple- mentierung eines von dem Hier und Jetzt der Vorderbühne abgekop- pelten Handlungsraums, der von institutionellen Hinterbühnen in Beschlag genommen wird, der Stadtraum mit einem sichtbaren Hori- zont ausgestattet wird, der das städtische Dasein in ein lebensweltli- ches Vorne und ein transzendentes Hinten aufspaltet. Darüber hinaus haben wir gesehen, dass die dadurch entstehende Lebensmitte, die als Hohlraum zurückbleibt, mit einer äußeren Gegenwelt bestückt wird, welche sich osmotisch vom Innen abkapselt, während sie gleichzeitig Teile ihres Steuerequipments auf der Vorderbühne unterbringt. Mit den besonderen Spezifikationen dieses Horizontes, der sich in Form der unterschiedlichsten Phänomene (Objekte, Prozesse, Zeichen) in- nerhalb der Lebenswelt entfaltet und dadurch auch dem städtischen Ich seine unverkennbare Prägung verabreicht, wollen wir uns nun genauer befassen. Da der institutionelle Handlungsraum, dem der Städter im We- sentlich nicht angehört, sich nicht nur räumlich vom Aufenthaltsbe- reich der Stadtwelt abnabelt, sondern eben auch im Bereich der Kompetenzlagen und Zuständigkeiten besser ausgerüstet ist, wird der Bewohner der Vorderbühne ganz von selbst in eine vertikale Hierar- 130 Nietzsche, F. (1986): Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums. Frank- furt Main/Leipzig: Insel Taschenbuch.  345 chie hineingestellt, die seine gesamte Lebenswelt bestimmt. Während der äußere Rand mit seinen institutionellen Hinterbühnen in den oberen Chefetagen Platz nimmt, bezieht die eigentliche Mitte der inneren Lebenswelt am unteren Ende des ordnungspolitischen Ran- kings Stellung. Zwar wird die Vorderbühne durch ihre zentrale Lage im Vorne zunächst räumlich zentriert, indem sie den Städter offen- sichtlich im Zentrum und nicht in der Peripherie unterbringt, aber im gleichen Atemzug wird die Lebensmitte auch graduell nach unten abgewertet, indem sie einer übergeordneten Hinterbühnensphäre funktional, handlungspolitisch und sinnweltlich untergeordnet wird. Damit wartet die Hinterbühne, neben ihrer räumlichen Sonderstel- lung, auch mit einer besonderen Symbolik auf, die andere Vorzeichen besitzt, weil sie sich bedeutungslogisch und normativ von der herab- gesetzten Lebenswelt abhebt. Die Umsetzung dieser normativen Deformierung der Lebenswelt setzt indes einen Horizont voraus, der als eine Schutzschicht agiert, welche die Akteure im Hintergrund sowie die dazugehörigen Arenen der Steuerung räumlich aus dem Vorne herauslöst, indem er eine osmotische Scheidevorrichtung im Raum montiert, die ohne Zweifel als eine der komplexesten sozialen sowie technologischen Erfindun- gen der Moderne verstanden werden muss. Erst dieses komplexe Arrangement einer osmotisch wirksam werdenden Filteranlage lässt Städter und Hinterwelt in ein figuratives Verhältnis eintreten, welches dem Rand schließlich ermöglicht, die Lebensmitte auszuhöhlen und die ursprünglich dort angesiedelten Kompetenzlagen und Praktiken der Welthandhabung abzuziehen. Voraussetzung für dieses kompli- zierte Manöver (die Entwendung von Befugnissen und Praktiken auf der Vorderbühne) ist, dass die physischen Infrastrukturen, Programme, Zeichen und soziale Hinterbühnenkollektive, die sich als Grün- dungsmitglieder der Moderne präsentieren, gemeinsam an einem Strick ziehen, um zu einer synchronen und einstudierten Aufführung zusammenzufinden und jene Differenzen zwischen Vorne und Hin- ten sowie die dafür notwendigen Schritte der osmotischen Abschot- 346 Horizonte der Weltenmitte   Teil III: Die kafkaeske Stadt  tung und Ausgrenzung loszutreten, die allesamt an der Entstehung dieses hoch agilen Exklusionsmechanismus beteiligt sind. Doch angefangen von den Mikropraktiken der Interaktionsteil- nehmer, über eine ausgeklügelte urbane Infrastruktur, bis hin zu einem ganzen Kosmos institutioneller Agenturen, die im Fahrwasser dieser weitläufigen Scheidevorrichtung eine Grenzmembran und mit dieser einen Horizont im Stadtraum einrichten, erfährt die gesamte Lebenswelt des Städters auch eine normative Polarisierung, durch welche das Vorne sein Privileg, als Zentrum des alltagsweltlichen Ereignishorizontes zu agieren, wieder einbüßt. Grund dafür ist die Ausrichtung der Lebensmitte innerhalb einer vertikalen Ordnung, welche sich mit der Installation einer Grenzschicht erfolgreich im Stadtraum etabliert und die das Hier und Jetzt der Lebenswelt mit einem moralischen und technokratischen Überbau versieht, der zwar zunächst in einem äußeren Weltenrand untergebracht ist, aber dabei gleichzeitig an der Spitze einer vertikalen Steuer- und Modellierungs- hierarchie verankert bleibt. Die Begegnung mit einem Horizont, hinter dem sich eine potente und saturierte Steuerarena von außen nach innen in die Welt hinein- beißt und sich – da hier alle Drähte zusammenlaufen – als eigent- liches Handlungszentrum des städtischen Daseins auszeichnet, degradiert also die Lebensmitte des Städters zu einem Sekundärraum. Das heißt, der primäre Aufenthaltsbereich des Städters gerät zu einem Raum zweiter Ordnung, der im Inneren leer ist, weil es von hier aus nicht möglich ist, die Kontexte und Zustände jenes bereitgestellten Geländes, in dem das Hier und Jetzt der städtischen Lebenswelt platziert ist, erfolgreich zu konfigurieren. Als Städter muss man sich daher mit der traurigen Lage abfinden, dass man in dieser Mitte lediglich einige ausgewählte Ausschnittswirklichkeiten tatsächlich handhaben kann, während die elementaren Daseinsparameter der makroskopischen Raumordnung sowie die Grundeinstellungen und ontologischen Rahmenbedingungen der eigenen Lebenswelt sich hartnäckig jedem Eingriff von innen heraus verweigern. Das Innen erweist sich so als eine entmachtete Sphäre, die von einem übermäch- 347  tigen und in mancher Hinsicht omnipotenten Außen entleert und anschließend in den Griff genommen wird. Diese Umrandung der Mitte mit einem höhersymbolischen und handlungsübermächtigem Saum und die damit einhergehende syste- mische Abhängigkeit des Stadtraumes (also der Vorderbühne) von einem überbordenden Außen trägt also dazu bei, dass der Hauptau- fenthaltsraum des Städters, trotz seiner geographischen Mitte, zu einer Art Nebenschauplatz umformuliert wird, auf dem sich zwar nach wie vor der Großteil des Alltagslebens abspielt, auf dem aber keine relevanten Entscheidungs- oder Steueraktivitäten mehr abgewi- ckelt werden können. Aus dieser normativen und funktionalen De- gradierung des primären Aufenthaltsbereiches städtischen Daseins, mit dem sich der Städter arrangieren muss, geht nun eine unmittelba- re Verschiebung der Weltachse einher. Denn während die Steue- rungshoheit aus der Vorderbühne unbemerkt herausgezogen wird, wird auch das ganzheitliche Kraft- und Handlungszentrum des le- bensweltlichen Ereignishorizontes im Einflussbereich der Hinterbüh- ne verstaut. Durch diese Verschiebung des Rotationspunktes wird das ursprüngliche Gravitationszentrum einer steuerfähigen (anthropomor- phen) Eigenwelt plötzlich an den Rand verlagert und die eigentliche Mitte, also das Hier und Jetzt der Vorderbühne, in eine Randwelt transformiert, der die Potenz abhandengekommen ist, selber Hand anzulegen. Während sich damit das Hauptdrehlager des städtischen Kosmos, also die Rotationsnabe des gesamten Daseinsraumes bestehend aus Vor- und Hinterbühne, plötzlich hinter die Grenzen der begehbaren Alltagswelt verschiebt, bleibt der Städter in einer implodierten Mitte zurück, die alle Kraft nach Außen abgegeben hat. Diese Verschiebung der Steuerarenen hinter einen Horizont, der das Außen osmotisch abriegelt und die Fähigkeit zur autarken Weltmodellierung aus dem Innen herausschneidet, führt nun dazu, dass der so alleine gelassene Städter in einem entleerten Zentrum einquartiert wird, das von einem saturierten Rand eingekreist ist, welcher wiederum die de-saturierte Mitte im Inneren der Lebenswelt kontinuierlich überfordert. Zurück 348 Horizonte der Weltenmitte   Teil III: Die kafkaeske Stadt  bleibt ein von außen eingedellter Siedlungsraum, dessen inneres steuertechnisches Vakuum eine ontologische Tiefdruckzone ins Leben ruft, die den Städter dazu zwingt, sich in einem unterprivilegierten Nichts einzurichten. Durch diesen Abtransport des Kraftzentrums in einen peripheren und hermetisch abgedichteten Raum, der die Lebenswelt von außen einkapselt und sie gleichzeitig seiner Kontrolle unterwirft, etabliert sich also auch eine spezifische hierarchische Ordnung, an der sich das Gemüt und der Habitus des modernen Subjekts abarbeitet. Denn diese Ordnung, in der die Handlungs- und Steuerräume sich von innen nach außen aufschichten und hierarchisch übereinander sta- peln, ist kein beiläufiges Ausstattungsmerkmal der Moderne, sondern sie stellt vielmehr die innere Skelettstruktur einer Lebenswelt bereit, in die ein osmotisches Außen als operative Gegenwelt zum Innen immer schon implementiert ist. Das heißt, erst mit dieser raumpoliti- schen Ordnung von innen und außen sowie oben und unten bildet sich die eigentliche sinnweltliche Daseinstopographie der Moderne heraus, auf die sich der hier einquartierende Bewohner gezwun- genermaßen einstellen muss, weil er dem transzendenten und überpo- tenten Außen weder entkommen kann, noch – dank seines kraftlosen Daseins innerhalb eines gesteuerten Innen – diesem etwas entgegen- zusetzen hat. Handeln und Sein sind innerhalb der Moderne also von vorne- herein an einer ontologischen Raumordnung orientiert, die auf einer komplexen Schalenmechanik basiert. Als Folge dieser Raumordnung wird die Lebenswelt mit einer umfangreichen gekapselten Architektur möbliert, welche dem Städter die konstitutionelle Grundausstattung der Moderne aushändigt. Für das urbane Ich bewegt sich mit dieser räumlichen und normativen Ordnungsstruktur auch die eigentliche Weltmitte aus seiner eigenen Reichweite als Städter heraus. Durch diese Verschiebung der Rotationsaxe, um deren Orbit gewissermaßen die hergestellte Welt rotiert, wird die althergebrachte anthropomor- phe Deckungsgleichheit von Lebenswelt und Steuerarena aufgebro- chen und eine Welt auf den Plan gerufen, in der Dasein und Handeln 349  keine gemeinsame Schnittmenge mehr bilden und stattdessen in zwei auseinanderdriftende Schalenkomplexe zerfallen. Indem sich die Achse der Weltmodellierung hinter die orbitalen Ränder eines Horizonts verabschiedet, wird der Städter in seiner nun entleerten Mitte der Eigenwelt buchstäblich in einen Zustand hinein- gestellt, der ihn in einem leergeräumten (implodierten) und degradier- ten (sekundären) Dasein allein zurücklässt. Genau darin begründet sich die ontologische Einsamkeit des modernen Subjektes, in die es hineingestoßen wird, weil die Lebenswelt, also das Hier und Jetzt der Eigenwelt, vollständig entkernt wurde und als leeres und machtfreies Gehäuse einem zweiten Zentrum gegenübergestellt wird, das trotz seiner geographischen Peripherie auf dem Gipfel einer Steuerpyrami- de platznimmt. Der moderne Mensch ist also allein auf Grund der ontologischen Verfassung seiner Lebenswelt – also wegen der Ausstaf- fierung seines Daseins mit einem übersättigten Handlungshorizont – ein Alleingelassener, dem das natürliche Repertoire an Steuerprakti- ken sowie das notwendige Equipment entwendet wurde, das unent- behrlich ist, um den auf ihn einschlagenden Kontextbedingungen seines Seins Einhalt zu bieten. Das heißt, durch diesen Bedeutungsverlust des Innen (der Vorder- bühne) wird die eigene Weltmitte des Städters als offizielle und syste- mische Mitte der Welthandhabung abgeschafft und ihrem Schicksal überlassen, als eine entkernte Sinnwelt von einem Rand eingefasst zu sein, in dessen osmotisch abgeriegelte Steuerarenen sich fast die ge- samte Masse der Modellierungspotenz verlagert hat. Der eigentliche Primärraum, also der Aufenthaltsraum des Städters, wird somit mit einem unüberwindbaren Handicap versehen, durch welches das Zentrum des eigenen Daseins plötzlich randständig wird, während die orbitale Weltkante, also die hinter dem Horizont sich andeutende und nicht betretbare Außenwelt der Hinterbühnen, als ein Raum markiert wird, der als zentraler Angelpunkt und Kraftraum avanciert und, trotz seiner räumlichen Peripherie, die eigentliche Handlungs- mitte repräsentiert. Mit dieser Unterbringung des Städters in einer entmachteten und dezentralen Mitte – also in einem Zentrum, das 350 Horizonte der Weltenmitte   Teil III: Die kafkaeske Stadt  sich zunächst im Rotationspunkt einer räumlichen Drehachse aber gleichzeitig in einer hierarchischen Bodenlage (im Unten) befindet – wollen wir uns nun etwas genauer befassen.

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