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"Wege entstehen dadurch, dass man sie geht."

Franz Kafka

TEIL IV Das metaphysische Rauschen – Ferngesteuerte Ereignisströme und die Modellierungs- Impotenzen des Städters „The essential? The determining factor? Money. But money no longer renders sensible as such, even on the facade of the bank. The center of Paris bears the imprint of what it hides, but it hides it.“ (Lefebvre 2004, S. 34)179 Im folgenden Kapitel wollen wir uns etwas genauer mit jenen sinn- weltlichen Ambivalenzen einer städtischen Alltagswelt auseinanderset- zen, die sich aus der unzweifelhaften und nicht zu leugnenden Anwesenheit institutioneller Akteure sowie aus deren fehlender Sicht- barkeit ergeben. Dazu werden wir uns mit der ontologischen Grund- stimmung eines Stadtraumes befassen, der wie kein anderer Aufenthaltsraum durch die Anwesenheit von Nicht-Anwesenden gekennzeichnet ist und der durch diese ausbleibende Präsenz von Steuerakteuren die Aufmerksamkeit des Städters um so mehr auf Prozesse und Verfahren lenkt, die im Namen eines institutionellen Handlungsrandes stellvertretend aktiv werden. Wie sich bereits auf den vorhergehenden Seiten angedeutet hat, steht die Unsichtbarkeit des Verwaltungshandelns – also die Ressourcen und Handlungsorien- tierungen jener Akteure, mit deren Hilfe städtische Räume gesteuert und modelliert werden – der Sichtbarkeit jener Phänomene gegen- über, die in Gestalt von Mess- und Beobachtungsapparaturen, inter- nen Gesprächsprotokollen (z. B. Zeichen und Gebrauchsanweisungen) und in Form von auf der Vorderbühne platzierten Handlungsspuren allzu offensichtlich von der Anwesenheit städtischer Autoritäten 179 Lefebvre, H. (2004): Rhythmanalysis: Space, Time and Everyday Life (Athlone Contemporary European Thinkers) by Henri Lefebvre, Stuart Elden, and Gerald Moore.  572 Teil IV: Das metaphysische Rauschen  Bericht erstatten. Diese Lesbarkeiten, an Hand derer sich die Anwe- senheit einer abwesenden Steuerelite abzeichnet, erhöht nun aller- dings nicht die generelle Lesbarkeit der Stadt, sondern sie weist den Städter vielmehr darauf hin, dass große Teile der städtischen Alltags- welt seine Lese- und Interpretationskapazitäten übersteigen. Denn da dem Städter die Kontexte der Entstehung und oftmals sogar die eigentliche Intention und die Bedeutung eines technischen Gestells, das ohne sein Wissen und ohne sein Zutun im städtischen Raum installiert wurde, nicht offenbart werden, bleibt die Stadt für ihn ein verdächtiges Konstrukt, welches durch das nicht einsehbare Handeln Unbekannter in die Welt »hineingezaubert« wurde. Das Einbrechen einer Handlungs- und Steuerautorität in die All- tagswelt sowie das Erleben der Effekte oft nicht vollständig einsehba- rer Prozesse und Handlungen, die durch die permanente Anwesenheit nicht Anwesender Steuereliten in Gang gesetzt werden, stellen eine zentrale Erfahrungsgröße dar, die sich an dem sinnweltlichen Aufbau der Lebenswelt beteiligt. Daher wollen wir uns in dem folgenden Kapitel mit den Konsequenzen einer sozialen Raumordnung ausei- nandersetzen, deren Herausstellungsmerkmal auf dem Vorhandensein einer Lücke aufbaut, indem sie die Abwesenheit zentraler Handlungs- träger zum Grundprinzip der sinnweltlichen Alltagswelt der Vorder- bühne erklärt. Dabei gehen wir zunächst von der Überlegung aus, dass diese Aktivitäten weitgehend unsichtbarer und fremder Akteure einen »Ereignis- und Handlungsstrom« hervorrufen, der die Stadt permanent von einem Hinten heraus moduliert. Dieser anonyme Ereignisstrom gibt dem Städter Zeichen und Signale an die Hand, die auf eine soziale und handelnde Hinterbühne verweisen und ihm einen verdeckten Handlungspartner in den Raum stellen. Während dieser Steuerstrom vom Städter erfahren werden kann, weil er dessen Resultate (Reparaturmaßnahmen, Straßenreinigung, Verkehrsmanagement etc.), bzw. dessen Steuerungstechnologien zu Gesicht bekommt, verharren die relevanten Akteure selbst, ihre ei- gentlichen Orientierungsrahmen und die hierin involvierten Verfah- ren weiterhin auf für ihn unzugänglichen Hinterbühnen. Als ein 573  Prozessstrom, dessen Ursprung und dessen Entstehungskontexte maskiert bleiben, zieht sich sein Handeln lediglich in Gestalt einer Schleifspur durch die Stadt, die dann als Signatur einer »fremden Handlungsmacht« dem Städter indirekt von jenen Steuerungsaktivitä- ten erzählt, die gerade das modulieren und kontrollieren, was für ihn selber nicht modellierbar oder kontrollierbar ist. Für den Städter beherbergt dieser Ereignisstrom daher auch das, was wir in diesem Zusammenhang als ein »metaphysisches Rauschen« bezeichnen wollen, nämlich einen Indikator für transzendente Aktivitäts- und Modellie- rungsprozesse, die einerseits unübersehbar steuern und kontrollieren, die aber gleichzeitig auch die Zeichen einer unüberwindbaren osmoti- schen Intransparenz im Raum zurücklassen, weil die tatsächlichen Steuerungsaktivitäten, also die involvierten Verfahren, Prozesse und Wissensressourcen, dabei verhüllt bleiben. Anstatt eindeutiger Zuständigkeiten und erkennbarer Handlungs- zusammenhänge ist es das Handeln nicht sichtbarer Akteure, das wie mit Geisterhand die Geschicke der Stadt bestimmt und ihre Gestalt und ihre Form durch Prozesse steuert, die auf jenseitigen und nicht begehbaren Arenen prozessiert werden. Aus diesem »metaphysischen Dunst«, also den Handlungsressourcen und Aktivitätsströmen unbe- tretbarer Hinterbühnen heraus, formt sich vor dem Auge des unbetei- ligten Städters alltäglich jene Stadt, die mit all ihren Geheimnissen und Uneinsehbarkeiten ihm wie eine fertige Welt vor die Füße ge- worfen wird. Und aus diesem metaphysischen Nebel, der sich aus dem unzugänglichen Wirken prinzipiell unbekannter Steuereliten heraus formiert, produziert sich nun eine Stadt, die sich mit allen Phänomenen und Ereignissen in ihr, wie ein ferngesteuertes Traum- gebilde aus einem »Nichts« emporwickelt. Da die geographische Mitte dieses handelnden Nichts, das heißt dessen modellierende Kraftzen- tren und Kontrollräume, aus deren Schoß die Steuerströme sich über die Stadt ergießen, dem Städter immer verschlossen bleiben, eröffnet sich in der städtischen Sinnwelt eine Fuge, in die man als Städter zwar nicht hineinsehen kann, die aber durchaus thematisch anvisiert wird. Das Zentrum dieses »Nichts« – also der unsichtbare Ausgangspunkt 574 Ferngesteuerte Ereignisströme   Teil IV: Das metaphysische Rauschen  dieses Ereignisstromes, aus dem sich heraus die städtische Lebenswelt herstellt – formt sich allerdings nicht nur aus einer beharrlichen Un- erreichbarkeit und räumlichen Abwesenheit institutioneller Hinter- bühnen, sondern das Nichts entsteht vor allem auch aus der »Handlungs-Impotenz« des Städters, die ihn daran hindert, all das zu modellieren, was ihn in seiner städtischen Alltagswelt umweltlich betrifft. Als jemand, dem lediglich seine Hände sowie die begrenzte Gar- nitur seines häuslichen Werkzeugkastens zur Verfügung stehen, um die Kontexte seines Daseins zu modellieren, bleibt die städtische Welt um ihn herum prinzipiell eine unerreichbare Welt, die sich in vielerlei Hinsicht seinen eigenen spärlichen Modellierungspotenzialen verwei- gert. Weil also mit den Technologien und Modellierungsrezepten des Städters, die sich größtenteils auf seine eigene Wohnung beschränken (Toilettenbürste, Akkuschrauber, Bratpfanne etc.), sich niemals jene Wirklichkeiten eines technischen Gestells in den Griff bekommen lassen, denen er sich in seinem städtischen Dasein ausgesetzt sieht (Straßen, Fußwege, Brücken, Abwasser- Beleuchtungs- und Entsorgungs- systeme etc.), offenbart sich hier eine Sinnwelt, die nicht nur aussperrt und entmündigt, sondern auch eine überhöhte Gegenwelt zum eige- nen Leben aufbaut, in deren Schatten die Lebensmitte symbolisch, geographisch und handlungspragmatisch in einem Unten versinkt. Diese Versenkung der Lebensmitte in einem hierarchischen Abseits wird also einerseits durch die defizitären Modellierungsleistungen des urbanen Ichs, sowie andererseits durch jenes dichte Netz an Steue- rungstechnologien losgetreten, die als Vollstrecker und als Zeitzeugen eines Steuerwillens dem Städter verkünden, sich in einer Welt aufzu- halten, die unaufhörlich von anderer Stelle her prozessiert wird. Denn sobald sich das urbane Ich innerhalb der Stadt an einen Ort begibt, wo jene Verfahren an die Oberfläche dringen, die an der Herstellung und der Steuerung einer städtischen Normalwelt beteiligt sind, eröff- net sich der Blick auf ein buntes Prozessgeschehen, dessen Brummen und Rattern auch dann nicht zu überhören sind, wenn die eigentli- 575  chen Motivlagen und Aufgabenzettel, die den Verfahrensströmen zu Grunde liegen, weiterhin maskiert bleiben. Läuft man beispielsweise über die Manhattan Bridge in New York, die von Chinatown nach Brooklyn führt (Abb. 57, S. 583), trifft man selbst als uninteressierter Städter auf ein komplexes Bündel aus Steuertechnologien, die in Form von Röhren plötzlich am Fuß der Brücke aus dem Boden aufsteigen und auf ein technisches Gestell verweisen, das nur zur Überquerung des Flusses seine Duckstellung im Untergrund verlässt. Mit dem technischen Gestell, das hier unver- hofft die Lebensmitte des Städters betritt, erhält die Vorderbühne nun einen sichtbaren Verweis auch auf jene Prozesse, die gewöhnlich ausschließlich im Hintergrund ihr Werk verrichten und im Schatten einer osmotischen Hinterbühne auch ohne die Einmischung des Städters aktiv werden. Durch das Sichtbarwerden dieser Ereignis- und Handlungsströme manifestiert sich ein »metaphysisches Rauschen«, das dem Städter innerhalb der Fußgängerzone einerseits in Form einer erlebbaren Infrastruktur anzeigt, dass hier tatsächlich etwas transpor- tiert und gesteuert wird (Strom, Wasser, Signale etc.). Andererseits wird dem Städter hier aber auch mitgeteilt, dass hinterbühnenartige Aktivi- täten und Handlungsströme am Wirken sind, mit denen die Stadt auch jenseits des Sichtbaren modelliert und reguliert wird. Die visuelle und haptische Präsenz dieser Leitungen weist den Städter also darauf hin, dass hier Medien und Signale bewegt werden, die Steuerungsprozesse sowie Akteure voraussetzen, welche im Gegen- satz zum Städter wissen, wie, warum und was gesteuert und model- liert wird. Da allerdings gerade diese Handlungs- und Wissensträger auch an dieser Stelle abhandenkommen, treten die Ereignisströme als autarke Akteure in den Vordergrund und füllen die Lücke, die sich hier unweigerlich auftut, mit dem Handeln eines herrenlosen Pro- zessgeschehens auf. Wie ein weißes Rauschen schütten die Steuer- ströme den Raum mit Signalen und Verfahren auf, die keine Herkunft zu kennen scheinen, weil die Steuerränder sich nicht als Verantwortliche und Verursacher zu erkennen geben, sondern ihre Verstrickung in die Modellierung der urbanen Weltzustände erfolg- 576 Ferngesteuerte Ereignisströme   Teil IV: Das metaphysische Rauschen  reich vertuschen oder zumindest unkenntlich machen. Obwohl also genau an dieser Stelle (vgl. Abb. 58, S. 595) die institutionellen Hin- terbühnen gewissermaßen ihre Tore öffnen und dem Städter einen partiellen Einblick in jene Modellierungs- und Steuerungsaktivitäten gewähren, die ansonsten hinter verschlossenen Türen vollzogen wer- den, bleibt eine eigenartige Leere zurück, welche die Lebenswelt nach innen einbiegt und den Ereignisströmen zu einem technokratischen Eigenleben verhilft. Die eigentlichen Handelnden werden so anony- misiert und treten als leere Referenzpunkte, die sich nicht anvisieren lassen, in den Hintergrund und lassen eine unbeseelte städtische Sinnwelt zurück, in der nicht Akteure, sondern Prozesse das Sagen haben. 

Auf Grund dieser Steuerströme verhält sich die Stadt aus Sicht des Städters wie eine monumentale »Anklageschrift«, die permanent seine eigene Handlungsinkompetenz offenlegt, indem sie auf eine Welt verweist, die sich jenseits seiner eigenen begrenzten Modulierungsfä- higkeit (Hammer, Hand und Kochrezepte) verortet. Die eigenen Stra- tegien der Welthandhabung des Städters sind also vor allem auf ein mechanisches und psychologisches Repertoire beschränkt, das ledig- lich für den Gebrauch von Staubsauger, Schraubenzieher und Koch- löffel (manchmal nicht einmal dies) genügt, aber außerhalb des Wohnzimmers kläglich versagt. Das heißt, die Werkzeuge des häusli- chen Gebrauchs sowie die Modulierungskompetenzen seiner Alltags- welt, die in Form von Einrichtungspraktiken, Putzritualen und einigen anderen Bedienungskompetenzen domestizierter Kleintech- nologien (Kühlschrank, Fernseher oder Rasenmäher) zwar für die Ge- staltung seiner kleinräumigen Eigenwelt (Stube und Haushalt)hinreichend sind, sich aber gerade für die Modellierung der großen Welt (die Stadt) disqualifizieren, stecken auch den Rahmen der hand- habbaren Welt ab. Damit wird deutlich, dass die Eigenschaft der Stadt, als transzendente Hinterbühne zu fungieren, eben nicht nur durch die Unsichtbarkeit ihrer Akteure, sondern auch durch ein grundlegendes Kompetenzgefälle in Erscheinung tritt, in welchem der Städter prinzipiell immer schon durch die Anwesenheit genau jenes

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omnipotenten Ereignisstroms »degradiert« wird, der die Stadt konse- quent modelliert und sie mit Hilfe jenseitiger (metaphysischer) und gleichzeitig gegenwärtiger (sichtbarer) Steuerungsaktivitäten in eine erlebbare Anomalie verwandelt, die sich von ihm nicht modifizieren lässt.

Diese Anomalie einer nicht handhabbaren Welt führt dazu, dass der Städter, sobald er die Hochburg seiner eigenen Modellierungs- kompetenz, nämlich die Wohnstube, verlässt, sich in einer Welt aufhält, in deren Angesicht all das, was er an Werkzeugen (Spülmittel, Staubwedel, Wandfarbe etc.) und Praktiken (putzen, ausbessern, sich einrichten) beherrscht, wie die nutzlosen Kniffe und Umgangsformen einer Spielzeugwelt erscheint. Das heißt, die Welt hinter der Woh- nungstür wird weitgehend von Apparaturen und Technologien be- herrscht (Nahverkehr, Straßenreinigung, Mülltransport etc.), die den Städter als einen Laien und Nichtsnutz entlarven, der außer konsu- mieren und existieren nichts gelernt hat. Damit entspricht die onto- logische Grundstimmung der Stadt dem inneren Zirkel einer geschlossenen Gesellschaft, die dem Städter die traurige Nachricht unterbreitet, dass er seinem ausweglosen Schicksal als ein Nicht- Dazugehöriger und Taugenichts, der nicht in der Lage ist, die Eck- pfeiler seiner eigenen Lebenswelt zu justieren, nicht entlaufen kann. Für ihn ist damit die Stadt nicht nur Habitat und Aufenthaltsraum, sondern vor allem auch ein »begehbares Hinweisschild«, das ihn un- entwegt darauf aufmerksam macht, dass er den Schlüssel für die eigene Welt verloren oder nie besessen hat.

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