B. Der Weltrekorder – Überbrückungsstrategien referenzieller Leerstellen „We are making improvements that you can see every day. Including a new way to tell you about improvements” (MTA-Info)155 Unsere bisherige Auseinandersetzung mit der irrationalen Seite der Moderne – die, wie wir gesehen haben, sowohl bei Kafka zur Sprache gebracht wird aber auch in dem Material zum Ausdruck kommt, das wir bisher ethnographisch untersucht haben – hatte zum Ziel, uns für die Absurdität der bizarren Mechanik jener Schalenkonstruktion zu sensibilisieren, deren sichtbar werdende Handlungshorizonte, deren vertikale Schichtung sowie deren osmotische Ausgrenzung der Vor- derbühne das Subjekt in die spezifische Rolle eines Randseiters hin- eindrücken. Dieser Randseiter, der so in einer leeren Mitte zurückbleibt, wird nun – und damit wollen wir uns etwas genauer befassen – von einer Weltkante eingerundet, die in gleichem Maße rational und transzendent ist. Wenn man die Moderne verstehen will und insbesondere moderne Stadträume in ihrer Funktion als ontolo- gische Daseins-Biotope untersucht, dann gerät das Erleben dieser Rationalität, die durch einen institutionellen und übermächtigen Handlungshorizont in die kraftlose Mitte des Städters hineinweht, zu einem zentralen Wetterphänomen, das am klimatischen und sinn- weltlichen Aufbau der inneren Lebenswelt seinen Anteil nimmt. Der bisherige Blick auf einige ausgewählte Objekte im Stadtraum sowie auf Kafkas literarische Exkurse, die uns bereits sehr nah an diesen Weltenhorizont herangeführt haben, hat bereits offengelegt, in welcher Weise das Subjekt im alltäglichen Vollzug der Lebenswelt mit einer Grenzwelt in Kontakt gebracht wird, die von hinten her das Vorne in Beschlag nimmt. Deshalb ist Kafka, der die Ausformulie- rung der Überlagerung beider Sphären sowie die sich daraus ergeben- 155 MTA (2011): Selbstwerbung in der U-Bahn-Fahrgastkabine. 402 Teil III: Die kafkaeske Stadt den Irrationalitäten, die vor allem auf der Vorderbühne der Lebens- welt zurückbleiben, geradezu perfektioniert hat, für unseren folgen- den Versuch, das Erleben moderner Erfahrungsräume aus der Innenperspektive heraus zu beleuchten, so außerordentlich fruchtbar. Denn der Blick auf die kafkaeske Randwelt eröffnet uns eine exemp- larische Schneise, welche einerseits die Moderne als Quelle des Ratio- nalen entzaubert, indem sie es uns gestattet, jene leisen Irrationalitäten zu betrachten, die gerade auch im Zentrum der Le- benswelt kleine aber sichtbare Furchen in die glatte Oberfläche einer ordnungspolitisch überformten Sinnwelt hineinschlagen und das Subjekt in der Mitte traumatisiert zurücklassen. Gleichzeitig wird durch das Anvisieren jener Grenzflächen, in denen sich das Hinten und das Vorne überlappen, auch die gewaltige Wucht thematisiert, mit der die Rationalität eines äußeren Handlungshorizontes in der Lebenswelt einschlägt und das Subjekt, das selber an den rationalen Prozessen der Weltherstellung (also der zeitlichen, räumlichen und organisatorischen Tektonik der Lebenswelt) nicht partizipiert, zu einem ausgegrenzten und traumatisierten Bewohner einer entleerten Mitte deformiert. In der nachfolgenden Analyse werden wir deshalb versuchen, her- auszuarbeiten, an welchen Stellen der städtischen Lebenswelt das Subjekt durch die Berührung mit einem institutionellen Handlungs- rand, der sich von außen nach innen hineingräbt, traumatisiert wird. Dazu werden wir uns zunächst noch einmal aus einer ethnographi- schen Perspektive heraus jenen Phänomenen des Stadtraumes zu nähern versuchen, bei denen das Subjekt mit der Rationalität eines institutionellen Handlungsraums in Kontakt gebracht wird, bevor wir uns dann anschließend in Form von Interviews jenen Innenperspekti- ven nähern, aus denen heraus die Grenzerfahrungen mit einer institu- tionellen Hinterbühne tatsächlich erlebt werden. Der Grund, warum wir eine stille Traumatisierung des Subjektes durch die Moderne beobachten, liegt in der konflikthaften Ambiva- lenz der modernen Lebenswelt verborgen, die sich zwischen den Gegensätzen einer gesteuerten Vorderbühne und einem steuerndem 403 (rationalen) Horizont herausstellt und sich an den Schnittstellen zwischen vorne und hinten zu einer stabilen Grenzerfahrung verdich- tet. Die Traumatisierung des Subjektes erfolgt also dadurch, dass die Normalwelt im Bereich der Grenze kollabiert, weil hier sowohl die Abhängigkeit von einem Hinten, als auch der Verlust in den Vorder- grund treten, die Welt von innen heraus modellieren zu können. Zurück bleibt ein an den Rändern aufgewühltes Innen, das dem biographischen Handlungsraum im Zentrum unverrückbare Grenzen entgegenstellt. Die daraus resultierende Kanalisierung und Rahmung dieses individuellen Handlungsraums wird vom Subjekt zwar antizi- piert (normalisiert) und mit Leben aufgefüllt, aber gleichzeitig verbrei- tet sich ein bitterer Beigeschmack, der die restlose Gewöhnung an die Hintergrundausstattung (Sloterdijk 2004, S. 65) sabotiert und der Umrandung der in der Mitte eingeklemmten Lebenswelt eine thema- tische Relevanz verschafft. Denn in dem Spannungsfeld zwischen einer entleerten Mitte und einem übersaturierten und handlungs- mächtigen institutionellen Handlungsrand wird die verunsichtbarte Hintergrundausstattung einer Schalenarchitektur, die vom Subjekt als rational hergestelltes Ausstattungsmerkmal vernatürlicht und bedin- gungslos vorausgesetzt wird, wieder als sichtbarer Bestandteil einer konstruierten Lebenswelt in Betrieb gesetzt, weil sie als besonderes Einrichtungsmerkmal der eigenen Lebenswelt thematisch nach vorne gedrückt wird. Indem der Horizont von außen herkommend die Lebenswelt mit einer subtilen Transzendenz versorgt, die sich nicht hinreichend normalisieren lässt, ohne den Glauben an eine rationale Moderne einzubüßen, mutiert der Hintergrund zu einem aktiven und thematisierbaren Vordergrund. Die osmotische Entgrenzung der Hinterbühnen sowie die Aus- grenzung des Subjektes und seine Einkreisung mit einem überpoten- ten Handlungsraum hinterlassen so eine traumatsche Spur, die sich wie ein Fingerabdruck durch gesamte Moderne zieht. Doch das dadurch beim Subjekt angestoßene Trauma hat eine ganz spezifische Note: Im Allgemeinen bedeutet Trauma „der Einbruch des Unver- ständlichen, des Unerwarteten, des Unerwartbaren in ein gewohnt ge- 404 Der Weltrekorder Teil III: Die kafkaeske Stadt ordnetes Alltagsleben“. Es ist ein „Schnittunkt in der Chronologie einer Lebensgeschichte; nachher ist nichts mehr so, wie es vorher war. Auch das Vorher nicht“ (Fraisl und Stromberger 2004, S. 20 ff.)156. Aber die Moderne ist, das ist auch Kafkas große These, der wir uns hier an- schließen wollen, nicht nur durch temporäre Brüche und Verluster- fahrungen gekennzeichnet – denn hierin unterscheidet sich die Moderne gerade nicht von der Vormoderne –, sondern sie vollzieht vielmehr selbst im Normalzustand eine stille aber unablässige Trau- matisierung des Subjektes, welches durch konstante Prozesse der Entfremdung, Desorientierung und des Kontrollverlusts mit Erfah- rungen konfrontiert wird, die sich als eine traumatsche Spur dauer- haft im Gemüt niederschlagen. Statt einer punktuellen Irritation, die als besonderes Ereignis in die Lebenswelt einschlägt, weist die Mo- derne permanente Ausstattungsmerkmale auf, die sich nicht restlos in die Normalwelt integrieren lassen und zu einer stabilen Brucherfah- rung führen, welche unablässig auf das Individuum einwirkt. Im Angesicht dieser anhaltenden Grenzerfahrung, welche die Moderne beherbergt, gerät die Stadt- und Raumanalyse ganz von selbst in die Nähe der Psychoanalyse. Dieses Crossover von Wirklich- keit und Traumrealität, die sich bei der Konfrontation mit einem transzendenten Handlungshorizont einstellt, der rational, aber gleich- zeitig mythischer Natur ist, verlangt daher von uns, sich auf „a blend of spatial analysis and psychoanalysis“ (Pile 2005, S. 89) einzulassen. Um nun dem Erleben einer rationalen Moderne auf die Schliche zu kommen, die an den Grenzen zwischen einem entleerten Vorne und einem aufgefüllten aber gleichzeitig auch transzendenten Hinten in die Höhe wächst, müssen wir uns diesem traumatischen und träume- rischen Potenzial der Moderne etwas ausführlicher zuwenden. Damit wir in Erfahrung bringen können, wie das Subjekt im Inneren einer modernen Lebenswelt den Einbruch einer von außen kommenden Rationalität tatsächlich erlebt, wollen wir uns im Folgenden – die 156 Fraisl, B.; Stromberger, B. (2004): Stadt und Trauma: Annäherungen, Konzepte, Analysen. Königshausen & Neumann. 405 Ergebnisse unserer bisherigen Analyse eines osmotischen Bühnen- und Steuerhorizontes im Gedächtnis behaltend – diejenigen Weltbe- stände vorknöpfen, an denen die Traumatisierung des Subjektes durch einen rationalen aber immer auch transzendenten Handlungs- horizont sichtbar wird. Die Etablierung der Normalwelt und die Hypothese von der Archivierung des Weltgeschehens Mit dem Wissen um jene fragile Tektonik der Moderne im Handge- päck, die wir durch die bisherige Schalenhermeneutik sichtbar ge- macht haben, wollen wir uns nun dem tatsächlichen Erleben eines modernen Weltenhorizontes widmen, der rationale und gleichzeitig transzendente Signale auszusenden scheint. Dazu müssen wir aller- dings zuerst verstehen, worin die Rationalität der Moderne sich ei- gentlich äußert. Trotz der vorhandenen schwarzen Flecken, die das partielle Versagen von Steuerungs- und Modellierungsaktivitäten städtischer Hinterbühnen in den Vordergrund rücken und auch den Alltagsmenschen immer wieder auf die Kontroll- und Beobachtungs- defizite einer städtischen Rationalität hinweisen, kann der Städter im Normalfall zunächst davon ausgehen, dass ihm ein dichtes und fast lückenloses Netzwerk institutioneller Akteure im Hintergrund zur Verfügung steht, auf das er sich im Notfall verlassen kann. Das Ver- trauen in den Fortbestand der Alltagswelt besteht also auf der An- nahme, dass eine intervenierende Hinterbühne zur Stelle ist, um Störungen, Ungewissheiten und Elemente der Unordnung wieder in eine gewohnheitsmäßige Normalität zu überführen. Waldenfels (1997, S. 36) hat mit Bezug auf Schütz in diesem Zu- sammenhang bereits darauf hingewiesen, dass wir dazu neigen, selbst das Fremde in die vorhandenen Bekanntheitsstrukturen einzuordnen, weil wir letztendlich immer davon ausgehen würden, dass auch für die »Leerstellen« der Welt institutionelle Sachverständige (Interventi- onspersonal) bereitstehen würden, die das Unbekannte normalisieren 406 Der Weltrekorder Teil III: Die kafkaeske Stadt und es in eine vertraute Ordnung zurückzuziehen. Denn die Existenz imaginärer Handlungsträger und unbegehbarer Hinterbühnen ver- sorgt den Städter nicht nur mit metaphysischen Implikationen einer anderen Welt, sondern sie löst bei ihm auch den Glauben aus, sich auf die (wenn auch spekulative) Annahme verlassen zu können, dass auch jene Bereiche der Alltagswelt, die sich scheinbar außer Kontrolle befinden (Ausnahmezustände, Unfälle, Defekte), sich prinzipiell wieder unter Kontrolle bringen lassen. Weil „Nachschlagewerke, Auskunftsbü- ros und Lernprogramme“ (Waldenfels 1997, S. 36) eine institutionelle Expertenschaft bereitstellen, die uns im Fall von Unsicherheit mit Sicherheit versorgt, spannt sich die Anwesenheit dieser institutionel- len Rationalität wie ein imaginäres Sicherheitsnetz auch über diejeni- gen Bereiche der Welt, die uns immer wieder zu entgleiten drohen. Dies bedeutet aber nicht nur, dass im Ernstfall jemand vorhanden ist, der weiß, was wir nicht wissen, sondern es bedeutet auch, dass die Welt von diesen imaginären Akteuren (Servicetelefone und Archive) immer besser beobachtet wird als von uns selbst (vgl. Abb. 17, S. 233). Die Normalisierung der „Leerstellen“ wird also ermöglicht durch ein Referenzsystem, das bereitgestellt wird durch Hinterbühnenakteu- re, welche die Welt in einer totalitären Manier nach innen hinein rationalisieren und von denen der Städter geneigt ist, anzunehmen, dass diese dazu in der Lage sind, selbst dem heillosesten Chaos jeder- zeit einen geordneten Platz auf dem Schachbrett eines institutionellen Raum- und Ordnungsschemas zuweisen. Das Inkrafttreten der mo- dernen Lebenswelt setzt also die implizite These voraus, dass auch die unsortierten Weltbestände sich einem Ordnungsprinzip unterwerfen lassen, in dem alle möglichen Stellungen (Vorhersehbarkeiten und Unvorhersehbarkeiten) eine »Inventarnummer« verliehen bekommen, um sie zumindest nachträglich in ein rationales Schema einzusortieren (vgl. Abb. 18, S. 235)157. 157 Ein Beispiel für eine solche logistische Ordnung des Stadtgeschehens ist die Inventari- sierung des städtischen Mobiliars. Durch das Anbringen von Barcodes und »Nummern- schildern« wird auch für den Städter die Katalogisierung des städtischen Inventars indirekt angezeigt. Bei dieser Archivierung der Objekte handelt es sich um eine weitere 407 Der vielleicht wichtigste mentale Ausrüstungsgegenstand, der die voraussetzungslose Bereitstellung der städtischen Hintergrundausstat- tung garantiert, ist daher die Annahme, dass die Steuerungsprozesse eines institutionellen Außen die uneingeschränkte Kontrolle des Innen übernommen haben und dies auch in Zukunft tun. Oder in anderen Worten: Voraussetzung für den Aufbau der modernen All- tagswelt ist die verwegene Hypothese, dass im Außen nicht nur ver- satzweise und bei Bedarf gesteuert wird, sondern dass der Steuerungsprozess, der seinen Weg von außen nach innen findet, im Innen eine ausnahmslos regulierte Welt zurücklässt, die sich voll- kommen und zu jeder Zeit unter den Fittichen einer externen, aber ordnenden Kraft wiederfindet, der nichts entgeht. Damit wird der Rand indirekt nicht nur mit einer unterbrochenen Aufmerksamkeits- gabe ausgestattet, sondern die Steuerarenen und ihre Akteure, die sich hinter dem Horizont andeuten, treten hier auch in ihrer Rolle als eifrige Datensammler und Liebhaber der Weltvermessung auf, die eine unermüdliche Archivierung des Weltgeschehens vorantreiben. Gesammelt wird alles, was sich im Prozess der Weltmodellierung an Daten gebrauchen lässt, um die lückenlose Steuerung des Innen nicht zu gefährden. Das ostentative Wissen des Städters um die Exis- tenz von Aktensammlungen, Beobachtungsroutinen, Berichterstat- tungen und Aufsichtsaktivitäten auf Seiten eines städtischen Verwaltungsapparates unterstützt so die Vorstellung von einer Nor- malwelt, von der man annehmen kann, dass alles, was der Fall158 ist, »mitgeschnitten« wird. Und so wird die Beobachtung aus der hinteren Reihe zu einer Ausgangsbedingung für das Inkrafttreten jener Nor- malwelt, in der es keine unkontrollierten Ausnahmeerscheinungen geben darf. Im Gegensatz dazu wird da, wo die Fähigkeiten zur Steue- rung unerwarteter Weise aus dem Ruder laufen, unser Vertrautheits- horizont grundlegend in Frage gestellt, weil sich mit der Lücke im Dimension des städtischen »Weltrekorders«, der alles, was in der Welt ist, in eine Inven- tarliste einfügt. 158 Zur Terminologie des „Falls“ vgl.: Wittgenstein, L. (2001): Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 2. Auflage. Der Weltrekorder 408 Teil III: Die kafkaeske Stadt System auch die fraglos vorausgesetzte Zuverlässigkeit einer Hinter- grundausstattung auflöst.
Der Weltrekorder – Überbrückungsstrategien referenzieller Leerstellen
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